Serbien zum „sicheren Staat“ erklärt

Serbien zum „sicheren Staat“ erklärt
Protest vor dem Bundesrat wegen Änderung des Asylgesetzes
Belgrad, 12. 07. 2014
 
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Anlässlich der für Freitag den 11. Juli erwarteten Verhandlungen des Bundesrates über die Änderung des Asylgesetzes fand vor dem Bundesratsgebäude eine Protestveranstaltung statt. Die Versammelten riefen die Abgeordneten der Länder zur Blockade eines neuen Gesetzes auf, das Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu sicheren Herkunftsländern erklärt.
Mit dem 2012 lancierten Diskurs über die sogenannten Scheinasylanten aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina hat die deutsche Rechte mit Innenminister Friedrich das Terrain für ein neue Gesetz vorbereitet, das schwere Folgen für Opfer von rassistischer Gewalt in diesen Ländern haben wird. Zur Zeit wird im deutschen Parlament eine Änderung des Asylgesetzes verhandelt, nach der Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zukünftig zu den „sicheren Staaten“ zählen sollen. Die deutsche Regierung hatte diese Länder bereits im April diesen Jahres für sicher erklärt.
Dass Diskriminierung aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit für in Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina lebende Roma zum Alltag gehört, belegen die Ergebnisse einer grossen Anzahl von Studien, die jedes Jahr im Auftrag internationaler Institutionen wie der OSZE, UNHCR und der Europäischen Kommission durchgeführt werden. Struktureller Rassismus verhindert die Ausübung grundlegender Rechte, wie kürzlich in einem Gerichtsverfahren wegen diskriminierenden Verhaltens eines Organs der Stadtverwaltung von Novi Sad in Serbien bewiesen werden konnte.
Demnach hatte es die Stadtverwaltung im Jahre 2008 abgelehnt, drei Personen mit der Roma-Hintergrund nachträglich ins Geburtenregister einzutragen. Die Organisation für Rechtshilfe Praxis reicht Klage wegen Diskriminierung ein und im Gerichtsurteil des Grundgerichts Novi Sad vom 12. September 2011 wurde Diskriminierung festgestellt. Obwohl das Urteil, wie in der Studie „Protecting Roma Against Discrimination“ der Organisation Praxis angeführt wird, „auf eindeutige Weise das [diskriminierende] Verhalten einzelner Organe gegenüber Personen mit Roma-Hintergrund bewiesen hat, wurden die Personen auch weiterhin nicht ins Geburtenregister eingetragen, da über ihre Rechte wieder derjenige Beamte entschied, der in seiner Begründung der Ablehnung des Antrags auf nachträgliche Eintragung diskriminierende Ausführungen gemacht hatte.“
Dieser Fall macht etwas deutlich, was jede Bürgerin und jeder Bürger Serbiens aus eigener Alltagserfahrung bestätigen würde: Gesetze, die den Normalbürger schützen sollten, stellen in der Praxis „tote Buchstaben auf dem Papier“ dar. Die Antidiskriminierungsgesetze, die Serbien und andere Länder in den letzten Jahren unter dem Druck der internationalen Institutionen eingeführt haben, garantieren in der Praxis nicht die Achtung der Menschenrechte und Grundrechte der Roma und anderer Minderheiten in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien.
Unsicher fühlen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen in naher Zukunft angeblich „sicheren Staaten“ auch aufgrund von anderen Formen von Diskriminierung: wie in der oben erwähnten Studie angeführt wird, werden Romnja und Roma auch aufgrund von Armut oder Geschlecht diskriminiert. Nach der aktuellen Studie des „Public Policy Research Center“ betrachten Roma ihre schlechte wirtschaftliche Lage als größte Bedrohung. Nach Angabe der Nationalen Verbraucherorganisation Serbiens benötigt eine durchschnittliche Familie für Lebensmittel und laufende Kosten täglich zwischen 2.000 und 2.500 RSD; dabei sei in nur zwei Jahren die durchschnittliche Supermarkt-Rechnung von 600 auf 300 RSD gefallen. Darüber hinaus ist für dieses Jahr eine Strompreiserhöhung um 45% angekündigt. Zum Vergleich ist interessant, dass diesen Sommer der Tageslohn für die Obsternte, einer Saisonarbeit, der viele Roma nachgehen, zwischen 1.200 und 2.000 RSD liegt, was zur Zeit etwa 10-17€ entspricht. Eine Studie von UNICEF vom Anfang des Jahres weist auf die Vergrösserung des Unterschieds zwischen den Lebensumständen und der materiellen Stellung von Kindern aus Roma-Siedlungen und dem nationalen Durchschnitt hin.
Nach Jahrzehnten unkontrollierter Privatisierung, die zur völligen Vernichtung der Unternehmen in Staats- und Gemeineigentum zugunsten der persönlichen Bereicherung einzelner in- und ausländischer Politiker und Businessismen geführt hat, hat Serbien heute kein Potential für das Anschieben der Produktion und das Schaffen von Arbeitsplätzen. Diese ökonomische Misere trifft die gesamte Bevölkerung Serbiens. Die Roma-Bevölkerung jedoch, die ans untere Ende der Gesellschaft gedrängt ist, bekommt den Fall des Lebensstandards am meisten zu spüren und mit ihm den wachsenden Hass und die Frustration, die sich unter den Menschen verbreitet. Als Folge der Verschärfung gesellschaftlicher Spannungen unter dem Druck neoliberaler Reformen, wie Kürzungen staatlicher Budgets und drastische Verringerung der Angestelltenzahlen im öffentlichen Dienst, sehen sich Roma an manchen Orten direkten physischen Angriffen ausgesetzt.
Nach Angeben des Innenministeriums wurden in 2013 und im Januar und Februar dieses Jahres dreiunddreissig Vorfälle gemeldet, davon sechzehn körperliche Angriffe auf Roma. Diese Zahl muss ins Verhältnis gesetzt werden mit den Resultaten einer Studie zu Roma und der Reform des Sicherheitssektors in Serbien, die zeigen, dass Romnja und Roma wenig Vertrauen in die Polizei haben. Wie dort zu lesen ist, „nehmen Roma das Innenministerium im allgemeinen neutral oder negativ wahr, mancherorts allerding, wie zum Beispiel in Niš, betrachten sie die Polizei als Gefahr für die eigene Sicherheit, als korrumpiert und ineffektiv“. Besorgniserregend ist nach der genannten Studie, dass Roma, „auch wenn sie ungerechtem Verhalten ausgesetzt waren, keine Anzeige gegen die Polizei stellen und dass diejenigen, die ein neutrales Verhältnis zur Polizei haben, zur Einschätzung kommen dass die Polizei formell ihrer Pflicht nachkommt, später es aber nicht zu einer Lösung des konkreten Problems kommt“.
Aus diesen Ergebnissen kann man schließen, dass es eine unbekannte Anzahl von Vorfällen und körperlichen Angriffen auf Roma gibt, die der Polizei nie gemeldet wurden. Die Studie über Roma und die Reformen im Sicherheitssektor des Public Policy Research Centers liefert Indikatoren dafür, dass diese Zahl wesentlich höher ist als die Zahl der gemeldeten Vorfälle. Folglich gibt es für die Behauptung des Staatssekretärs des serbischen Innenministeriums Vladimir Božović anlässlich des Tags der Roma am 4. April 2014, dass Roma nicht in einem Maße Repression und Diskriminierung ausgesetzt seien, das sie zur Emigration in die Länder Westeuropas veranlassen könnte, keinen stichhaltigen Grund.
Die tatsächliche Gefährdung bestimmter Gruppen bezeugt die Anzahl anerkannter Asylanträge von Flüchtlingen aus den Ländern des westlichen Balkans in Deutschland, Belgien und der Schweiz. Wie die Organisation Pro Asyl aus Deutschland anführt, wurden im ersten Quartal 2013 105 Asylsuchende aus Serbien als schutzbedürftig registriert und bekamen Asyl gewährt. Die Gründe für die Probleme, mit denen die Roma-Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien konfrontiert ist, liegen laut Pro Asyl in fortwährenden ethnischen Spannungen, Korruption in der Polizei und in den ineffektiven Institutionen der Justiz, die politischer Manipulation ausgesetzt sind. Pro Asyl folgert daraus, dass diese Staaten nicht in der Lage sind, Angehörigen verfolgter Minderheiten Schutz zu gewähren.
Trotzdem werden sich Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien demnächst auf der Liste der sicheren Staaten befinden, auch wenn die Verhandlungen im Bundesrat auf den 19. September verschoben sind. Die fremdenfeindliche Atmosphäre und der gegen Roma gerichtete Diskurs über sogenannte Scheinasylanten, den die deutsche Rechte nicht nur in Deutschland initiiert hat, sondern auch mit einer ähnlichen Kampagne in Serbien lanciert hat, hat seine Aufgabe erfolgreich erfüllt. Die deutsche und die serbische Regierung haben eine gemeinsame Sprache gefunden, wenn es darum geht, die Probleme der Angehörigen der schutzlosesten aber auch größten Minderheit Europas durch Exklusion und systematische Nichtachtung ihrer Rechte zu lösen.
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Dieser Artikel von Rena Jeremić Rädle ist am 12. 07. 2014 erschienen auf dem Blog des Forums für angewandte Geschichte, Belgrad, siehe http://www.fpi.rs/blog/srbija-na-spisku-sigurnih-zemalja. Übersetzung: Rena Jeremić Rädle
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Quellen:„Serbien, Mazedonien und Bosnien – sichere Herkunftsstaaten? Zusammenfassung des Rechtsgutachtens“, Pro Asyl, 2014,

http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Zusammenfassung_des_Rechtsgutachtens.pdf

„Roma Women and Men and Security Sector Reform in the Republic of Serbia. How Roma Women and Men Perceive Their Own Security and the Functioning of Security Sector Institutions“, Public Policy Research Centre, Belgrade, 2014,

http://publicpolicy.rs/publikacije/d8d89ad852091936d45460ddab672e49a0d87c45.pdf)

„Protecting Roma Against Discrimination“, Praxis, Belgrade, 2013
http://www.praxis.org.rs/images/praxis_downloads/Protecting_Roma_Against_Discrimination.pdf

„Serbia Roma Settlements Multiple Indicator Cluster Survey“ on the situation of children and women, 2014, Key Findings, Unicef, http://www.unicef.org/serbia/MICS5-English-final.pdf

http://www.alle-bleiben.info/wp-content/uploads/2014/03/serbien_2013_web.pdf

 

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