„Der deutsche Staat darf uns nicht abschieben!“

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Radmila auf einer Demo am 24.03.2014. Foto: Infoladen Sabotnik

PARIA: In Serbien haben Sie sich über zehn Jahre politisch engagiert. In Novi Sad gründeten Sie eine Textilfirma, in der Sie Romnja einstellten, die keine Arbeit fanden. Diese konnten sich dann als genehmigte Straßenhändlerinnen selbstständig machen. Wie läuft die offizielle Genehmigung ab, und wie ist der Umgang der Behörden und der Polizei mit den StraßenhändlerInnen?

Radmila Anic: Die Verkäuferinnen hatten einen Genehmigungsausweis von Majcina Kolevka Radanec bei sich – Radanec war meine Textilfirma – und außerdem ein Abzeichen angesteckt, das sie als zu meiner Firma gehörig kennzeichnete.

Wenn man Geld hat, ist es auch für Roma nicht schwer, eine Genehmigung zu bekommen. Aber trotz Genehmigung wurden Verkäuferinnen meiner Firma, die am Rand des Markplatzes verkauften, von Ordnungskräften vertrieben. Serbische HändlerInnen wollten nicht, dass auch Roma dort verkauften.
– Wofür habe ich Steuern gezahlt, wenn die Frauen nicht auf belebten Plätzen verkaufen dürfen?

PARIA: Wie sieht das im Alltagsleben in Serbien aus?

Radmila Anic: Serbinnen sagten verächtlich: „Sieh dir die Zigeunerin an, wie sie ihre Sachen verkauft!“ Das zeigt ganz gut, wie es den Roma im Alltag geht.

PARIA: Durch Ihr Engagement für alleinstehende Mütter in Novi Sad und die Gründung Ihres Vereins „Majcina Kolevka“ („Kinderwiege“) wurden Sie Außenstehenden bekannt. Wie hat sich daraufhin Ihr Leben verändert? Welche Gefahren ergaben sich aus dieser herausgehobenen Stellung?

Radmila Anic: Ich war froh darüber, dass ich alleinerziehenden Müttern eine Arbeit geben konnte. Dass sie eine Sicherheit hatten, wovon sie leben konnten.

Für Roma in herausragenden Positionen besteht die Gefahr, dass die Mafia auf sie aufmerksam wird, was ja bei mir dann auch eingetreten ist. Die Serben wollen nicht, dass die Zahl der wohlhabenden Roma zunimmt. Denn ein beträchtlicher Teil der Serben hasst Roma. Sie nennen sie verächtlich Zigeuner, Kinder von Roma werden in der Schule geschlagen.

Ich weiß keine Strategie, denn auch viele Polizisten sind gegen Roma eingestellt, sie schauen weg bei Gewalt gegen Roma.

PARIA: Was hat Sie motiviert, trotz der Gefahren aktiv zu werden?

Radmila Anic: Ich wollte die Rechte der Roma einfordern, uns stehen die gleichen Rechte zu wie den Serben. Aber keiner gibt uns unsere Rechte.

PARIA: Durch jahrhundertelange Verfolgung, Ausschluss und Unterdrückung lebt ein großer Teil der Roma-Bevölkerung in Slums, abgeschnitten von der restlichen Gesellschaft, und manche Familien ernähren sich sogar aus dem Müll. Wie schätzen Sie die derzeitige Situation und den Umgang der serbischen Regierung damit ein?

Radmila Anic: Nicht alle Roma ernähren sich aus dem Müll, aber die Mehrheit sammelt Dinge aus dem Müll, die sich verkaufen lassen. Roma werden zwar nicht mehr so schlimm behandelt wie es damals unter Hitler war, sie werden heute nicht systematisch umgebracht. Aber als in Belgrad ein Roma-Kind ermordet wurde, interessierte es niemanden, die Täter wurden nicht bestraft. Die Serben mögen keine Roma, deshalb fliehen die Roma nach und nach. Die europäischen Länder müssen auf Serbien Druck ausüben, Serbien will ja EU-Mitglied werden.

PARIA: Viele Familien sind durch die generationsübergreifende Diskriminierung zerstört. Wie könnten sie sich gegenseitig helfen?

Radmila Anic: Die Tochter einer Verwandten von mir ist z.B. von der Mafia zum Drogenkonsum verführt worden und dann an einer Überdosis gestorben.

In Serbien gibt es keine Möglichkeit, dass sich Roma-Familien gegenseitig unterstützen gegen die Diskriminierung. Nur im Rest Europas ist das möglich.

Vor vier Jahren, unter Boris Tadic, hatten es die Roma besser. Er war leider nur vier Jahre im Amt.

PARIA: Ihre Schwester wurde in das „Prostitutionsgeschäft“ gezwungen. Derzeit sitzt sie für fünf Jahre im Gefängnis in Požarevace, Serbien. Da ihr Gewalt angedroht wurde, machte sie keine Aussage. Stehen Sie miteinander in Kontakt und wissen Sie, wie es ihr geht? Welche Haftbedingungen gelten dort, und wie ist die Behandlung der Strafgefangenen?

Radmila Anic: Ich kann meiner Schwester leider weder Briefe schreiben noch mit ihr telefonieren. Wenn ich von Freunden etwas Geld für sie bekomme, dann schicke ich es an eine Familie, die mit meiner Schwester in Kontakt steht.

Meiner Schwester geht es sehr schlecht, sie ist nierenkrank, hat Probleme mit dem Blutkreislauf, sie hat Nervenprobleme und eine Art Ausschlag an den Beinen. Im Gefängnis gibt es nicht ausreichend zu essen, und es werden keine Medikamente bezahlt. Meine Schwester muss ihre Medizin und zusätzliches Essen bezahlen. Ein Hund lebt besser im Gefängnis. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht.

PARIA: Sie sind aus Serbien nach Deutschland geflohen und beantragten hier Asyl.
Nach einer Anhörung bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration in Thüringen wurde Ihr Asylantrag trotz belegbarer Gründe abgelehnt, und Sie standen kurz davor, abgeschoben zu werden.

Radmila Anic: Niemand hat mir dabei geholfen, eine Duldung zu bekommen. Alle aus Serbien haben eine Duldung bekommen.

Bei der Asylanhörung ist das, was mir geschehen ist, nicht beachtet worden, Serbien ist ja zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt worden.

Solange es für Roma nicht das gleiche Recht gibt wie für Serben, werden wir fliehen. Der deutsche Staat darf uns nicht abschieben! Wenn wir gegrüßt und respektiert werden wie andere Bewohner Serbiens, werden wir zurückkehren.

Demnächst werden in Serbien wieder Wahlen stattfinden. Präsident Nikolic will wiedergewählt werden. Viele Roma haben bei den letzten Wahlen vor vier Jahren für ihn gestimmt, weil er ihnen viel versprochen und auch Geld gegeben hat. Jetzt sind die meisten Roma im Ausland, ihm werden diese Stimmen fehlen.

PARIA: Würde Deutschland Sie nach Serbien abschieben, dann befürchten Sie eine Gefängnisstrafe in Serbien, da Sie hier einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Warum? Mit welchen Repressionen müssen Roma in Serbien rechnen, wenn sie in Deutschland erfolglos Asyl beantragen?

Radmila Anic: Es ist für mich gefährlich, nach Serbien abgeschoben zu werden. Es besteht die Gefahr, dass ich ins Gefängnis komme, oder dass mich die Polizei misshandelt. Ich würde als eine Vaterlandsverräterin angesehen.

Inzwischen haben die serbischen Behörden schon angefangen, uns Roma nicht mehr aus Serbien ausreisen zu lassen. Wenn eine Roma-Familie mit vier oder mehr Kindern Serbien verlassen will, wird sie nach dem Grund gefragt. Wenn deutlich wird, dass sie in der EU Asyl beantragen will, dann wird sie aufgefordert, an ihren Wohnort zurückzukehren.

PARIA: 2005 wurde die „Dekade zur Inklusion der Roma“ initiiert, unterstützt durch den US-amerikanischen Investor George Soros (Open Society Institut) und die Weltbank. Die Initiative wollte auch in Serbien die Regierung, NGOs und Roma an einen Tisch bringen, um die Situation zu verbessern. Traten die serbischen Roma-VertreterInnen damals auch für Ihre Organisation „Majcina Kolevka“ ein?

Radmila Anic: Diese Gremien haben öffentlich Stellung bezogen. Aber es ist nichts geschehen.
Andere Roma-VertreterInnen haben sich damals solidarisch erklärt. Aber sie sind nicht in der Lage, wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Geht doch selbst nach Serbien und versucht es! Ich sehe keine Chance.

PARIA: Es ist bedauerlich, dass die anderen VertreterInnen, trotz ihrer Stellung in den Gremien und der finanziellen Unterstützung nichts bewirken konnten und Radmila Anic alles verlor, was sie über die Jahre aufgebaut hatte. Unsere Einstellung gegenüber den von der Regierung bzw. der Dekade geförderten VertreterInnen ist eher skeptisch. Es besteht die grundsätzliche Gefahr, dass Regierungen soziale Bewegungen vereinnahmen, und als Folge dann die Interessen der Regierung vertreten werden statt der ursprünglichen Ziele. Häufig wird dann ignoriert, dass Roma eine Legitimation und das Recht haben, sich zu wehren. Stattdessen wird das Bild vermittelt, sie könnten doch alles bekommen, seien damit aber nicht zufrieden. Oftmals fallen dann auch Begriffe wie: „Sozialschmarotzer“, “nicht integrationswillig“ und „schmutzig“ (derstandard.at). Doch Radmila Anic ließ sich durch all das nicht manipulieren oder abschrecken, sondern forderte unsere Rechte ein, auf die wir einen legitimen Anspruch haben.
Alle Menschen, egal ob Roma oder Gadze, haben das Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit.

In Deutschland läuft währenddessen die Abschiebungsindustrie auf Hochtouren:
Am 16.12.2015 wurden 125 AsylbewerberInnen in Niedersachsen ohne vorherige Ankündigung in den Kosovo abgeschoben. Unter ihnen befanden sich viele Kinder, die in Deutschland geboren wurden. UNICEF-Studien zufolge haben diese Kinder kaum eine Chance, die Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen. Stattdessen werden sie gezwungen sein, ihren Lebensunterhalt mit Metall- oder Papiersammeln zu verdienen. Des Weiteren stellte die Studie 2012 fest, dass Abschiebungen bei „Rückkehrerkindern“ übermäßig häufig zu Albträumen und zu Depressionen führen.
1/5 der Jugendlichen empfindet das Leben nach der Abschiebung als nicht mehr lebenswert.
Während der Zeit der Studie beging ein Jugendlicher Selbstmord, die Zahl weiterer Suizide liegt im Dunkeln. Oftmals werden Jugendliche kurz vor dem Schulabschluss oder Beginn einer Ausbildung aus Deutschland abgeschoben. Dann sollen z.B. 16-jährige in Serbien wieder mit der ersten Klasse beginnen. Welch eine Demütigung für junge heranwachsende Menschen! Zudem grenzt die Vorgehensweise, Abschiebungen unangekündigt durchzusetzen, an Psychoterror. So wurden z.B. in Berlin Schulkinder von der Polizei während des laufenden Unterrichts aus der Klasse geholt. Am Muttertag wurde eine junge Kosovarin um vier Uhr nachts mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn ohne Vorwarnung abgeführt.
Auch Handschellen werden gelegentlich eingesetzt, als handle es sich bei den Menschen um Schwerstkriminelle. Warum dieser psychische Terror? Um Menschen zu überrumpeln, einzuschüchtern und damit besser kontrollieren zu können?

Das Grundrecht auf Asyl, verankert in Art. 16 des Grundgesetzes wird in Deutschland als historische Antwort auf die NS-Zeit angesehen. Nie wieder sollten Flüchtlinge keinen Schutz finden, so der Anspruch. Nach der Überarbeitung dieses Art. 16, dem sogenannten „Asylkompromiss“ im Jahre 1993, wurde das Asylrecht allerdings drastisch eingeschränkt, um einen unterstellten „Asylmissbrauch“ zu verhindern. Diesen befürchteten einige Politiker als Folge der Jugoslawienkriege, aufgrund derer viele Menschen auch nach Deutschland flohen. Tatsächlich wurden nicht die Gründe eingeschränkt, die vorliegen müssen, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Stattdessen war auf einmal entscheidend, welchen Weg die Flüchtlinge bis nach Deutschland genommen hatten. Auch nachweislich politisch Verfolgte konnten nun plötzlich durch das Raster fallen und wurden nicht mehr anerkannt. Mit dieser Neuerung im Gesetz konnte man auch Asylanträge von Roma aus den Balkanstaaten erheblich leichter ablehnen als zuvor.

Seitdem Bosnien & Herzegowina, der Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt wurden, können Roma-Flüchtlinge noch pauschaler und in umstrittenen Schnellverfahren abgelehnt werden. Das Argument lautet: In einem sicheren Herkunftsstaat sind politische Verfolgung oder „unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung und Behandlung“ ausgeschlossen und ein Asylantrag daher von vornherein „offensichtlich unbegründet“.
Mit der Etikettierung „sicherer Herkunftsstaat“ wird die Realität der systematischen Verfolgung der Roma konsequent ignoriert. Ausreichend scheint zu sein, dass die entsprechenden Staaten auf dem Papier demokratisch sind und die Mehrheitsbevölkerung keinen Gefahren ausgesetzt ist.
Radmila Anic jedoch steht politisches Asyl zu, ihr Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wurde zu Unrecht abgelehnt. Die deutschen Behörden ignorieren die Belege der Verfolgung, weil nicht sein kann, was nach Behördendefinition nicht sein darf. Über ihren konkreten Einzelfall hinausgehend wäre außerdem durchaus das Ausmaß einer systematischen Gruppenverfolgung belegbar, wenn akribisch zusammengestellt würde, was Roma-Familien in den Balkanstaaten an Ausgrenzung und Gewalt erleben (Pro-Asyl Anwalt Heinold).

Doch seit der Flüchtlingskrise 2015 und weiteren Verschärfungen im Asylrecht „liegt es im öffentlichen Interesse, Ausländer mit geringer Bleiberechtswahrscheinlichkeit zu konzentrieren“ und schnell abzuschieben, „um Platz für diejenigen zu schaffen, die anzuerkennende Fluchtgründe besitzen.“
In letzter Konsequenz sind die Nachfahren der Verfolgten des nationalsozialistischen Völkermords vom Grundrecht auf Asyl ausgeschlossen, obwohl sie bis heute massiver und systematischer Diskriminierung ausgesetzt sind. Hinzu kommen noch die Repressionen, denen Roma ausgesetzt sind, wenn sie es wagen, Asyl zu beantragen. Der deutsche Staat wird seiner historisch bedingten besonderen Verpflichtung zum Schutz der Roma daher nicht einmal im Ansatz gerecht. Das muss sich dringend ändern!

Vielen Dank für das Interview Radmila Anic und Danke an die Gruppe „Radmila bleibt – alle bleiben“ für die Übersetzung (deutsch-serbisch)!

Danke Ulrike Löw fürs Lektorat!

Quellen:

http://www.nds-fluerat.org/17630/pressemitteilungen/mehr-unmenschlichkeit-in-der-fluechtlingspolitik/ (Abruf am 09.01.2016)

http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/harter_winter_fuer_balkanfluechtlinge_massenabschiebungen_bei_nacht_und_nebel/ (Abruf am 09.01.2016)

http://www.sueddeutsche.de/bayern/fluechtlinge-ohne-bleibeperspektive-raus-aber-zackig-1.2780489 (Abruf am 09.01.2016)

https://www.youtube.com/watch?v=oOz0JnnFPtc (Abruf am 09.01.2016)

http://derstandard.at/1345166789499/Die-unsichtbaren-Menschen-Belgrads (Abruf am 09.01.2016)

http://www.news4teachers.de/2015/09/angst-vor-abschiebung-in-berlin-werden-kinder-von-der-polizei-aus-der-klasse-geholt/ (Abruf am 09.01.2016)

http://www.nordbayern.de/region/nuernberg/um-vier-uhr-nachts-junge-kosovarin-mit-sohn-abgeschoben-1.4373494 (Abruf am 09.01.2016)

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